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Weltgeschehen mit Kindern bearbeiten
Umweltkatastrophen sind bereits heute Schlüsselsituationen im Leben vieler Kinder und Familien auf der ganzen Welt – Tendenz steigend. Augen und Ohren vor beunruhigenden Nachrichten zu verschließen, in der Hoffnung, die Probleme würden dann verschwinden, ist verlockend, aber nicht zielführend. Wie wir mithilfe des Situationsansatzes gemeinsam mit Kindern aus dieser Mutlosigkeit heraus- und ins Handeln hineinkommen, beschreibt die Erziehungswissenschaftlerin Katrin Macha.
Schalten wir heutzutage die Nachrichten an oder wischen uns durch Instagram- oder TikTok-Content, ist es nicht leicht, einen positiven Blick auf die Welt zu behalten. Bedrückende Meldungen überwältigen uns: Naturkatastrophen, Klimakatastrophen, Kriege, Armut, politische Umwälzungen. Demokratie und Menschenrechte werden infrage gestellt, Kinder erleben Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung sind an der Tagesordnung. Im Situationsansatz sind wir davon überzeugt, dass sich Kinder bereits sehr früh mit solchen Themen beschäftigen, dass sie mitbekommen, was passiert, und versuchen, sich einen Reim darauf zu machen. Wir wissen, dass sie Gefühle dazu haben und häufig sehr allein damit sind, sich die negativen und beängstigenden Anteile des Lebens auf der Welt zu erklären. Je öfter es Pädagog:innen (und Familien) gelingt, Kinder bei der Bearbeitung dieser Themen und Fragen zu begleiten, desto besser.
In meinem Seminar »Erziehungswissenschaften als Antwort auf aktuelle Fragen« an der Hochschule München haben wir uns mit Auswirkungen der aktuellen Weltlage auf das Leben von Kindern beschäftigt – und auch unsere Haltung und unser Erleben von Krisen reflektiert. Manchmal ist es so viel und so deprimierend, dass wir einfach ausschalten, uns wegdrehen und gar nichts mehr tun. Manchmal sind die Nachrichten so abstrakt, dass wir uns gar nicht vorstellen können, wie sie auf uns oder auf Kinder Einfluss nehmen.
Hier zeigt sich, wie relativ privilegiert viele von uns leben: Familien in Palästina können nicht »abschalten«, sondern verhungern, fürchten um ihr Leben, erleben Zerstörung und Gewalt. Aber auch hier in Deutschland werden Kinder und ihre Familien rassistisch angegriffen, beleidigt, verletzt; sie können sich nicht wegdrehen. Kinder, die von Naturkatastrophen wie Fluten, Tornados, Erdrutschen, Dürren – egal, wo auf der Welt – betroffen sind, verlieren ihre Spielsachen, Wohnorte, Lebensgrundlagen, Angehörigen. Sie können nicht sagen: »Das ist mir gerade zu viel, das geht mich nichts an.« Es geht mir nicht darum, euch – oder den Studierenden – ein schlechtes Gewissen zu machen. Das führt uns nicht weiter.
Und es geht auch nicht darum, Aktivismus loszutreten oder einen bestimmten Weg vorzugeben. Dafür ist es alles zu komplex, zu chaotisch, zu verwickelt. Über zwei Ansätze möchte ich aber mit euch nachdenken – und danach beschreiben, wie wir im Situationsansatz mit solchen komplexen, irritierenden, großen Fragen mit den Kindern arbeiten.
Macht teilen
Das Konzept des Powersharing (Macht teilen) ist entstanden in der Auseinandersetzung mit der Rolle von privilegierten, weißen Personen in der Forschung zu Diskriminierung und Intersektionalität. Es macht deutlich, dass Diskriminierung nicht nur manche Menschen benachteiligt, ausgrenzt und verletzt, sondern dass manche Menschen genau davon profitieren. Hier sind koloniale und patriarchale Traditionen am Werk, die es uns schwer machen, die Linien von Macht und Ungleichheiten zu erkennen und die eigene Rolle darin zu sehen. Es ist für viele Menschen ein schwieriger Prozess, sich das klar zu machen. Zum Beispiel legen wir viel Wert darauf, dass Einzelne erfolgreiche Bildungs- oder Berufskarrieren machen. Wenn mir bewusst wird, dass ich es aufgrund meines bildungsorientierten Elternhauses in meiner Bildungskarriere leichter hatte als andere, weil meine Eltern mich unterstützen konnten, mir die entsprechenden Codes für den Umgang in Bildungsinstitutionen mitgegeben oder ihren Einfluss geltend gemacht haben, damit ich in guten Bildungsumgebungen lernen konnte, dann wird mir vielleicht der Erfolg »weggenommen«, und ich wehre mich gegen diese Einsicht. Umgekehrt habe ich, wenn ich mir den Bildungserfolg selbst, ohne Unterstützung von zu Hause erarbeiten musste, einen sehr genauen Blick darauf, wo die Mechanismen der Ausgrenzung liegen, gegen die ich mich durchsetzen musste. Die Politikwissenschaftlerin Natascha Anahita Nassir-Shahnian beschreibt, wie Diskriminierung entsteht, und ermöglicht uns dadurch zu erkennen, wo wir daran beteiligt sind, Menschen zu diskriminieren.1
Unterschiede und vor allem bestimmte Merkmale werden als bedeutsam konstruiert. Bestimmte Menschen sind dann »anders« und ausgeschlossen aufgrund von (körperlichen) Merkmalen oder der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen. Mit diesen Unterschieden werden Abwertungen und Aufwertungen verbunden. Eine Bewertung von Menschen aufgrund eines Merkmals findet statt und lenkt vom individuellen Handeln und den Eigenschaften der Person weg. Der Machtunterschied legt klar fest, welche Merkmale auf- oder abgewertet werden, wer am Tisch sitzen darf und wer nicht. So profitieren manche Menschen von bestimmten Merkmalen und können gar nichts dafür. Und manche Menschen werden benachteiligt oder ausgegrenzt aufgrund dieser Merkmale und können genauso wenig dafür. Diese Bewertungen passieren nicht auf individueller Ebene, sondern haben sich in einem langen Prozess in unsere gesellschaftlichen Normen und Werte und gleichermaßen in unsere gesellschaftlichen Strukturen und Systeme eingebrannt. Nichtsdestoweniger können Menschen, die viele Privilegien haben, lernen, sie für sich selbst zu reflektieren, sowie sich systemisch und strukturell einzubringen, um diese Ungerechtigkeiten insgesamt zu thematisieren. Offene Anerkennung eigener Privilegien trägt dazu bei, mit anderen solidarisch zu handeln. Ich hoffe, dass diese Bewusstheit dazu dient, dass wir mit Krisen in unserer Welt und unseren Handlungsmöglichkeiten darin anders umgehen.
Verbunden sein
Báyò Akómoláfé, ein nigerianischer Philosoph und Psychologe, weist darauf hin, wie stark wir als Lebewesen in dieser Welt mit allem verflochten sind, was hier geschieht. Er und viele andere indigene Denker:innen oder Posthumanist:innen beschreiben, dass Menschen nicht von der Natur und der Welt separiert sind, sondern vielmehr in Verbindung miteinander und mit den anderen Wesen dieser Welt sind. Wir nehmen diese Verbindung oft nicht wahr oder haben verlernt, sie zu spüren. Wenn ich meditiere oder im Wald spaziere oder mit meinen Füße im Meeres- oder Flusswasser stehe, spüre ich manchmal dieses Verbundensein mit der Natur. Ihr auch? Auf der Grundlage dieser Verbindung können wir unseren Einfluss auch auf Krisen in der Welt erleben: »Selbst die Frage ›Wie kann ich der Welt helfen?‹ hat – wie ein Dominoeffekt fallender Karten und kaskadenartiger Bewegungen – zur Folge, dass sich die Welt selbst verändert und destabilisiert, neue Potenziale freisetzt und andere ausschließt. Wir sind bereits ethisch verwickelt, tanzen bereits mit den anderen.«2
Katrin Macha ist Erziehungswissenschaftlerin und Expertin für Qualität im Situationsansatz. Als Direktorin des Instituts für den Situationsansatz (ISTA) an der Internationalen Aka-demie Berlin gGmbH ist sie verantwortlich für verschiedene Forschungs- und Praxisentwicklungsprojekte, insbesondere zur Erhebung von Kinderperspektiven.
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